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„Musik ist dafür da, dass man intim ist und sehr transparent sein kann“ – Interview mit Alice Merton zum neuen Album „S.I.D.E.S.“

Als Alice Merton 2016 mit No Roots bekannt und beliebt geworden ist, ging der Song allen wochenlang nicht aus dem Ohr und hielt sich monatelang in den Radios. Seitdem ist viel passiert bei der Singer-Songwriterin: Auftritte bei Jimmy Fallon im amerikanischen Fernsehen, ihre eigene, weltweite Tour und ein Album folgten. 3 Jahre sind seit dem letzten Album vergangen, jetzt ist Zeit für neue Musik. Vor 4 Monaten erschien ihr neues Album „S.I.D.E.S.“, im Oktober startet ihre Europa Tour zum Album und wir hatten die tolle Möglichkeit, die Sängerin zu interviewen.

Das Interview wurde kurz vor dem Albumrelease im Juni geführt.

 

Das Album erscheint jetzt schon in einer Woche. Wie geht es dir damit? Zählst du die Tage?

Also die Tage zählen kann ich ja eigentlich nicht mehr, es sind ja nur noch 7 Tage. Ich bin schon sehr aufgeregt und sehr nervös.

 

Nervöser als beim ersten Album?                                  

Nicht nervöser als beim ersten Album. Entspannter als beim ersten Album. Aber trotzdem gespannt zu sehen, ob’s Leuten gefällt oder nicht.

 

Ja, das glaube ich. Das ist ja jetzt schon dein zweites Album. Viele Künstler*innen verspüren beim zweiten Album mehr Druck, weil du dir denkst, „Ja, das erste ist gut angekommen, ich muss beim zweiten auch abliefern, ich muss das erste übertreffen.“ Hast du sowas auch? Machst du dir da auch einen Kopf?

Ich hatte das eher so beim ersten Album, weil ich davor eine EP rausgebracht habe. Und dachte: „Oh Gott, die EP ist so gut angekommen, jetzt muss das Album gut ankommen.

Aber inzwischen, mit diesem Album, bin ich viel entspannter. Einfach weil ich weiß, dass es ein richtiges Album ist für mich. Und ich hätte einfach keine anderen Songs schreiben können in der Zeit und ich habe mein Bestes gegeben und sozusagen das dokumentiert, was ich gefühlt habe in den letzten zwei Jahren und das bringe ich jetzt den Fans näher.

 

Hat’s jeder Song aufs Album geschafft, den du geschrieben hast? Wahrscheinlich nicht, oder?

Nein. Ich habe sehr, sehr viele Songs geschrieben. Aber letztendlich muss man sich dann entscheiden, welche Songs draufkommen.

 

Hast du ein Release Ritual? Irgendetwas, was du bei jeder Veröffentlichung machst, auf das du dich wieder freust?

Ne, Ritual nicht. Normalerweise versteck ich mich in meinem Bett und mir geht’s meistens körperlich und psychisch nicht so gut, aber dieses Jahr haben wir ein Angebot bekommen, auf dem Southside und Hurricane zu spielen und das heißt, wir werden tatsächlich am Release Day selbst ein Festival spielen.

 

Uuhhh. Was ist der Highlight Song live, auf den du dich freust?

Mania.

 

Okay, da bin ich dann aber gespannt.

Das Album hat insgesamt auch einen sehr anderen Vibe finde ich, viele Songs klingen anders, du hast teils sehr unterschiedliche Sounds. Hast du dich bei dem Album mehr ausprobiert? 

Auf jeden Fall. Ich habe dieses Mal mehr experimentiert und ich glaube, das lag auch an Corona. Dass ich gedacht habe, ich will jetzt einfach alles geben und ich will mal ausprobieren. Weil wenn wieder so eine Pandemie passiert, dann will ich nicht irgendwie sagen können „Ach man, hätte ich doch jetzt mit dem arbeiten können.“ Weißt du, was ich mein? Ich dachte, ich habe mich total frei gefühlt.

 

Dann hast du dir auch irgendwie keinen Zeitdruck gesetzt? Dass du sagst, in den zwei Jahren muss ichs schaffen?

Doch. Also letztes Jahr habe ich schon gesagt, ich will, dass alles im Januar fertig ist, dass die Master im Februar schon bereit sind. Und das habe ich tatsächlich geschafft, wo ich auch sehr stolz drauf bin. So, dass es im Juni rauskommen kann. Die Songs sind ja schon seit Januar fertig produziert.

 

Ja krass. Aber da kannst du wirklich stolz auf dich sein. Also ne Deadline einhalten ist wirklich schwer.

Wenn wir uns den Albumtitel mal kurz anschauen – es heißt S.I.D.E.S., nach jedem Buchstaben ein Punkt. Hat das eine Bedeutung oder ist das nur ein stilistisches Mittel?

Es hat tatsächlich eine Bedeutung. Ich wollte dem Titel zwei Bedeutungen geben. Die erste Bedeutung, wieso ich das Album S.I.D.E.S. nenne und die ich mit allen teile und auch einfach was, was ich für mich behalte, etwas sehr Persönliches. Was ich nicht allen erzähle.

Und die einzelnen Wörter verrate ich tatsächlich nicht, also beziehungsweise vielleicht verrate ich es in ein paar Jahren, aber der Hauptgrund, wieso ich das S.I.D.E.S. genannt habe, ist, weil das Wort sehr oft in meinen Songs vorgekommen ist und ich gemerkt habe, dass ich einfach von einer Seite zur nächsten mich bewege und mich irgendwann gefragt habe, wann ich endlich auf der anderen Seite ankomme und merke, dass es mir gut geht. Weil’s mir einfach sehr lange sehr schlecht ging und wie gesagt, das Wort ist dann überall aufgetaucht – „We’re not two sides of the same team“, „you caught me on my blindside“, dann „The Other Side“ – und dann war’s für mich eigentlich so eindeutig, dass es S.I.D.E.S. heißen muss.

Und dann habe ich aber zusätzlich darüber nachgedacht, was es heißen könnte und dann habe ich gedacht, es wäre auch schön, etwas privates für mich zu behalten, wenn man so viel preis von sich gibt in einem Album, dass man auch was für sich behält.

 

Finde ich sehr schön, die Vorstellung, dass du einen kleinen Teil für dich behältst und trotzdem etwas nach draußen gibst. Aber, S.I.D.E.S., the other side, … hast du ja schon gesagt, einfach, dass du jetzt auf der anderen Seite bist. Hilft dir die Musik da, auf die andere Seite zu kommen oder…?

Das Album hat mich auf jeden Fall gerettet tatsächlich. Also die Musik, die ich geschrieben habe, das war so meine Rettung aus der ganzen Corona Zeit, dass es mir so schlecht ging…

Und da bin ich der Musik einfach so dankbar. Dass ich einfach das Gefühl habe, dass die Musik immer mein bester Freund ist.  Dass ich mich immer auf die Musik verlassen kann, weil‘s mir immer, immer hilft.

Schafft sie es auch immer, dich rauszuholen? Also ich mein, wenn du jetzt nen schlechten Tag und wirklich keine Lust hast oder auch gar keine Kraft oder Energie, irgendwas zu tun, hast du trotzdem Lust, Musik zu machen? Also ist das etwas, das wirklich IMMER da ist?

Ja. Inzwischen ja. Also früher, also vor der Pandemie, wars eher so eine Sache, die ich nicht immer so als Erholung gesehen habe, aber inzwischen habe ich wieder Phasen, wo ich merke, das tut mir richtig gut, dann einfach Musik zu schreiben, wenn ich einen schwierigen Tag hatte oder so.

 

Hast du die Erschaffung des Albums als Arbeit gesehen, als etwas, was du tun musst (auch wenn du das natürlich trotzdem tun willst) oder stand deine Leidenschaft und Liebe für die Musik trotzdem noch im Vordergrund?

Ich würde sagen beides. Es wird immer auch jetzt meine Arbeit sein, weil ich‘s zu meiner Arbeit gemacht hab, aber es ist ja auch eine Art Therapie und wie man auch die Sachen verarbeitet und ähm… auf jeden Fall, ja.

 

Das Album ist hauptsächlich in den letzten zwei Jahren entstanden, nehme ich an. Die Jahre waren ja geprägt von Isolation, Lockdowns, man war viel alleine, du hast auch erzählt, du hast Therapie angefangen. Würdest du sagen, das Album spiegelt das wider? Dass es persönlicher ist, weil du dich einfach mehr mit dir auseinandergesetzt hast?

Genau. Der Grund, wieso es persönlicher wurde, ist, weil ich sehr viel Selbstreflexion in diesem Album gemacht habe und sehr viel über mein eigenes Verhalten und meine eigenen Entscheidungen gemerkt habe, warum ich so bin, warum ich so denke, warum ich so reagiere.

 

Hast du dich damit auseinandergesetzt und dann die Musik geschrieben oder hast du auch teilweise die Musik geschrieben und das hat dich dazu gebracht, dich mit den Dingen auseinander zu setzen?

Beides. Ich würde sagen, vieles hat mich beschäftigt, was ich dann aufgeschrieben und in einen Song gepackt hab und vieles ist mir dann klar geworden, nachdem ich dann ins Studio gegangen bin und darüber geschrieben habe.

 

Hast du ein Lieblingsstudio? Also so das eine Studio, das für immer dein Wohlfühlort sein wird?

Es gibt ein Studio in London, wo ich sehr gerne bin. Da habe ich mit dem – er heißt Jonathan Coffer – ich habe the other side mit ihm geschrieben – und es ist einfach ein cooles Studio, aber ich würde jetzt nicht sagen, dass ich ein Lieblingsstudio habe, nein.

 

Du singst ja auf Englisch, aus offensichtlichen Gründen. Aber viele deutsche Artists, die auf Englisch singen, erzählen, dass sie das machen, weil sie dann nicht so verletzlich, so angreifbar sind. Weil’s nicht ihre Muttersprache ist, weil sie sich einfach besser, gewählter ausdrücken können, weil es für sie nicht so intim, so verletzlich wird. Hast du jemals drüber nachgedacht, das auf Deutsch zu machen? Weil Deutsch ist ja nicht deine Muttersprache, das wäre ja dann so die zweite Sprache für dich.

Ne. Ich finde, Musik ist dafür da, dass man intim ist und sehr transparent sein kann und ich will mich ja nicht verstecken.

 

Musikalische Einflüsse: Was hast du für welche, was würdest du sagen, war ausschlaggebend für das Album?

Ich rede gar nicht wirklich darüber oft, was für Musik ich gehört habe in der Zeit, es sind oft so Filme, die mich inspiriert haben, für Alben oder für Musik. Aber meine musikalischen Vorbilder sind immer noch dieselben, Regina Spector, The Alan Parsons Project, Queen, …

 

Bei diesem Album habe ich super viele unterschiedliche Sachen gehört, ich habe Phoebe Bridgers gehört, die ich total gerne mag. Julien Baker – wobei eher Lucy Dacus. Ich habe das Taylor Swift Album tatsächlich sehr oft gehört, das sie in den Corona Zeiten rausgebracht hat. Evermore und Folklore, das war super schön. Genau, das war tatsächlich so n bisschen die Musik, die ich gehört habe zu dem Zeitpunkt.

 

Und was würdest du sagen, was für Filme haben dich inspiriert? Also auch direkt ins Album rein tatsächlich?

Ja, also es waren Serien tatsächlich. Also Handmaids Tale, Breaking Bad, Black Mirror… Solche, also so ziemlich dunkle Serien.

 

Und hast du auch eine Wohlfühlserie, die dich inspiriert hat?

Friends. Friends ist immer super, kann ich auch immer schauen. (evtl. insert – find ich auch toll)

 

Du hast dieses Jahr ja auch schon einiges live gespielt, warst viel unterwegs. Jetzt hier erst in Darmstadt, die letzten Tage vor allem, und dann auch als Support bei Bastille. Das war ja das erste Mal seit 3 Jahren wieder in Amerika, hast du gesagt. Wie war’s denn für dich? Hattest du Spaß?

Total schön. War eine sehr schöne Erfahrung. Und die Jungs von Bastille sind auch sehr, sehr nett. Also war wirklich eine sehr tolle Erfahrung.

 

Merkst du, ob sich was beim Publikum unterscheidet? Unterschiedliche Kulturen?

Hmm… Ich glaube… Puh, schwierig. Manchmal merkt man das, aber dann ist man wieder in einer anderen Stadt, dann ist das wieder anders. Ich glaube, das ist immer so stadtabhängig, habe ich das Gefühl. Also anstatt zu sagen, jedes Land ist anders, jede Stadt ist anders. Vor allem in Amerika.

 

Es folgen ja noch einige Live Shows, im November dann deine eigene Tour. Du hast einen vollen Kalender würde ich sagen. Auf welchen Song freust du dich am meisten, ihn live zu performen? Oder auf welche Momente? Wir hatten ja schon, du freust dich auf Mania am meisten – auf welche Momente freust du dich denn live am meisten?

Ich freu mich….. Auf super viele. Wenn wir Same Team spielen, mag ich das tatsächlich gerne, wenn wir mit dem Chorus anfangen und ganz viele Leute mitklatschen. Ich freu mich auf The Other Side, weil das ist das, was wir ganz am Ende spielen und dann kommen alle mit diesem Gefühl „Wir habens geschafft, wir haben irgendwie so eine Hürde geschafft“

 

Wenn du auf der Bühne stehst und deine Songs spielst, was fühlst du? Wie fühlt sich das an für dich, was macht das aus für dich?

Ich spür eigentlich nur noch Freude. Früher wars eigentlich Angst und Aufregung und inzwischen ist es Freude.

 

Ich war selber bei deinem Auftritt am Schlossgrabenfest in Darmstadt letzte Woche. Du hattest ein neues Bühnenbild, diesen wunderschönen Himmel mit rosa-orangenen Wolken und auch die Steine. Ist das etwas, das du für die Tour beibehältst?

Auf jeden Fall. Also für die Herbsttour noch nicht sicher, aber für die weiteren Termine im Sommer auf jeden Fall.

 

Etwas, das die Stimmung des Albums widerspiegelt? Oder wie bist du dazu gekommen? Dachtest du dir einfach, das sieht schön aus, das will ich.

Ähm, nicht alle Songs. Aber den letzten auf jeden Fall.

Ich war auf Teneriffa und lag auf so Vulkansteinen unten mit so einem schönen Backdrop, also mit so einem lila Himmel, und das war der Moment, wo ich wusste, dass es mir besser geht. Und das wollte ich irgendwie dann mitnehmen, mit auf die Bühne. Und dann habe ich mir gedacht, „das will ich mitnehmen auf Tour, das Gefühl.“

 

Wo wir gerade bei Bühnenperformance sind, ich muss sagen deine Bühnenoutfits. Ich find die immer sehr, sehr schön. Stellst du die selber zusammen? Gehst davor einmal shoppen vor dem Albu?

Manchmal stell ich sie selbst zusammen, manchmal habe ich auch einen Freund, der das kreiert, der Designer ist. Immer unterschiedlich. Das lila Outfit war auf jeden Fall von meinem Kumpel, das davor habe ich selber dann zusammengestellt.

 

Am Ende vielleicht nochmal etwas philosophischer: sollte man dich oder deine Musik nicht kennen – was würdest du antworten, wenn man dich frägt “Wer ist Alice Merton oder was ist S.I.D.E.S.?”

Ich würde sagen zu der Frage, wer ist Alice Merton: Alice Merton ist einfach eine Songwriterin, die über ihr Leben und über ihre Erfahrungen schreibt.

Und S.I.D.E.S. ist ein Album, wo eine sehr große Entwicklung in mir vorgegangen ist und ich dokumentiert habe. Und es sind die Sachen, die mich berührt oder die mich beschäftigt haben in den letzten zwei Jahren. Wie ich die letzten zwei Corona Jahre irgendwie hinter mich gebracht habe.

 

 

Also, wer jetzt noch kein Ticket zur S.I.D.E.S. Tour hat, kann sich noch eins holen, denn Alice Merton ist noch etwas unterwegs:

 

S.I.D.E.S. Tour:

02.11. Mannheim – Alte Feuerwache
05.11. Düsseldorf – New Fall Festival
08.11. Stuttgart – Im Wizemann
09.11  München – Muffathalle
11.11. Dortmund – FZW
12.11. Frankfurt – Zoom
13.11. Köln – Live Music Hall
15.11. Bielefeld – Forum
16.11. Bremen – Modernes
17.11  Hamburg – Uebel & Gefaehrlich
20.11. Berlin – Hole44

 

Wer es nicht zur Tour schafft, kann sich aber mit den neu gewonnen Einblicken aus dem Interview auch nochmal ins Album reinhören:

 

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(jf)