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Was ist eigentlich… Keychange?

Wer kennt das nicht? Die Festivalsaison steht an, die Line-Ups werden bekannt gegeben und obwohl man sich auf das Festival freuen sollte, ist man doch irgendwie enttäuscht, dass mal wieder (fast) gar keine Frauen* auftreten. Vielleicht postet man darüber etwas auf Social Media und bekommt Antworten wie „Ist doch nicht schlimm, dass weniger Frauen als Männer auftreten. Es muss ja nicht alles gleich sein.“ Oder: „Es gibt halt weniger weibliche Bands/Sängerinnen!“ – und das frustriert einen noch mehr. Was dagegen getan werden kann, um mehr Frauen* auf die Bühne zu bringen, wollen wir euch hier vorstellen. Wir zeigen euch, was die Kampagne „Keychange“ vorhat und wie beispielsweise der „The 1975“-Sänger Matty Healy mit guten Beispiel voran geht, um für mehr weibliche Acts und Gleichberechtigung auf Festivals zu sorgen. Das ist das erste Thema unserer neuen Themenreihe „Was ist eigentlich…?“.

Was ist Keychange?

Plakat des britischen Festivals Reading 2020 ohne die männlichen Acts

Ursprünglich war das Projekt Keychange 2017 von der britischen PRS Stiftung als Talentförderung für Künstler*innen und Musikmanager*innen gegründet worden, mittlerweile ist daraus eine Bewegung aus Festivals und Musikorganisationen gewachsen, die sich für Geschlechtergerechtigkeit einsetzen. Damit soll eine globale Debatte angestoßen werden, die eine nachhaltige Veränderung in der Musiklandschaft nach sich zieht. Und die Kampagne hat sich ein ganz konkretes Ziel gesetzt: bis 2022 soll bei Festival-Line-Ups ein 50:50-Geschlechterverhältnis erreicht werden. Jedes Festival, das sich der Kampagne anschließt, verpflichtet sich, sich für dieses Ziel einzusetzen und ihre Zahlen an die Kampagne zu liefern. In Deutschland sind das z.B. das Jazzfest Berlin, Enjoy Jazz und natürlich das Reeperbahnfestival, auf dem der Start der Kampagne verkündet wurde und das mit gutem Beispiel vorangeht (2019 hatten sie einen Frauen*-Anteil von rund 44%). Das Popkultur Festival in Berlin und Primavera in Barcelona haben die 50%-Quote bereits erreicht (die vollständige Liste der teilnehmenden Partner in deutschsprachigen Ländern seht ihr am Ende des Artikels).

Doch die Kampagne will nicht nur mehr Frauen* auf die Bühne bringen. Alle im Musikleben beteiligten Akteur*innen sind aufgerufen, auf verschiedenen Ebenen mehr Geschlechtergerechtigkeit anzustreben: Orchester können das 50:50-Ziel für beauftragte Komponist*innen, Orchestermitglieder, die Anzahl der Hauptakteur*innen und leitenden Angestellten anvisieren. Musikhochschulen können sich bemühen, bei ihren Studierenden, ihrem Lehrpersonal, ihren Live-Musikprogrammen, ihren Gastmusiker*innen mehr weibliche und non-binäre Personen zu gewinnen. Agenturen, Verlage und Labels können sich ihre eigene Bilanz der Künstler*innen ansehen, die sie unter Vertrag nehmen und einen Wandel anstoßen. Radiosender können das Versprechen („pledge“) nutzen, um sich die Quote der Moderator*innen anzusehen oder die Zahl der Gäste, die sie zu ihren Shows einladen. Redaktionen können das Keychange-Versprechen bei der Beauftragung von Autor*innen, Redakteur*innen, Fotograf*innen usw. anwenden. Und natürlich sind vor allem auch Organisationen und Bildungsträger gefragt, die mit Jugendlichen arbeiten und möglichst viele Role Models und eine Vielfalt von Akteur*innen engagieren sollten.

Das Herzstück der Initiative ist jedoch das Development-Programm. 2019 kündigte Keychange ein neues 4-jähriges Förderprogramm mit dem Reeperbahn Festival als neue Projektleitung an: Keychange 2.0. Das Programm, das von Creative Europe der Europäischen Union mit einer Fördersumme von 1,4 Millionen finanziert wird, wählt ab 2020 jedes Jahr 74 Teilnehmer*innen für ein Förderprogramm aus: 37 weibliche und nicht-binäre Künstler*innen bzw. gemischte Bands werden mit 37 Innovator*innen aus der Musikwirtschaft gematcht. Reeperbahnfestival-Kuratorin Christina Schäfers drückte es jüngst in einer Pressemitteilung so aus: „Während die Pledge Organisationen und Festivals dazu anregt, geschlechterausgeglichene Line-Ups auf ihren Bühnen zu präsentieren, hilft das Development-Programm den teilnehmenden Künstlerinnen, auf genau diese Bühnen zu gelangen. Nach eingehenden Beratungen mit Kreativen und Expert*innen während der ersten Phase sind wir erfreut, dass 2020 eine noch inklusivere Herangehensweise zu einer noch vielschichtigeren Gruppe an Teilnehmerinnen geführt hat. Wir sind stolz, in 2020 eine noch größere Anzahl geschlechtsspezifischer Minderheiten, Ethnien, Genres und unterschiedlicher Karrierestufen zu präsentieren“. Die teilnehmenden Akteur*innen in diesem Jahr wurden aus über 650 Bewerbungen aus 12 Ländern ausgewählt. Aus Deutschland wurden die Musikerinnen DENA, Novaa und Ilgen-Nur ausgewählt sowie drei Innovatorinnen: die Musikpromoterin, Bloggerin, Autorin und DJ Lina Burghausen, die Kulturmanagerin Lena Ingwersen und die DJ Juba (die Liste aller Teilnehmer*innen seht ihr hier).

Die ausgewählten Musikerinnen 2020: Novaa, DENA (Foto: Sander Houtkruijer), Ilgen-Nur (Foto: Jenny Schäfer)




Die im Rahmen eines offenen Ausschreibungsverfahrens ausgewählten Teilnehmer*innen setzen sich aus Musikschaffenden und innovativen Musikindustrieexpert*innen aus Kanada, Estland, Frankreich, Deutschland, Island, Irland, Italien, Norwegen, Polen, Spanien, Schweden und dem Vereinigten Königreich zusammen. Die Teilnehmer*innen nehmen an einem umfangreichen Talentförderungsprogramm mit Showcases, Panels, Workshops und sogenannten Creative Labs auf 13 Festivals in ganz Europa und Kanada teil. Hilfe zur Selbsthilfe, aber auch Talententwicklung stehen im Fokus des Programms, das es Teilnehmer*innen und Innovator*innen ermöglicht, sich zusammenzuschließen und gemeinsam die nächsten Schritte der einflussreichen Initiative auf den Weg zu bringen.

Und was war jetzt mit dem eingangs erwähnten Sänger der Band The 1975 Matty Healy? Die Band hat in diesem Jahr verkündet, ab jetzt nur noch auf Festivals zu spielen, die gender-balanced sind. Healy sagte dazu: „This is how male artists can be true allies“. Das finden wir genial!

Die ausgewählten Innovatorinnen 2020: Lina Burghausen, Lena Ingwersen (Foto: Robin Hinsch), Juba




 

 

 

 

 

 


Warum Keychange?

Das Ziel dieser (Bewegung) ist vor allem, den Frauen sowie allen nicht binären Künstler*innen bis 2022 bei zukünftigen Auftritten auf Festivals eine geschlechterberechtigte 50:50 Chance zu geben. Die Ungleichheit der Geschlechter muss in dem 21. Jahrhundert endlich bewältigt werden! Die Zuschreibung „Frauen* sind unterrepräsentiert“ – als eine der (immer noch) größten Probleme in der musikalischen Branche – soll mithilfe der internationalen Initiative Keychange nicht mehr vorkommen. Und das wäre nur dann möglich, wenn die Festivals mehr Wert auf die Anerkennung der weiblichen* Talente legen und in ALLE Nachwuchstalente investieren. Ein trauriger Fakt ist zum Beispiel, dass im Jahr 2017 der Anteil von Frauen* bei großen Musikfestivals nicht mehr als 26% in Großbritannien und 10% in den USA betrug. Auch die Zahlen zur Repräsentanz in den Bereichen der Musikindustrie sprechen eine deutliche Sprache:



Die Notwendigkeit der Veränderung ist echt groß und häufig unterschätzt. Man begegnet diesem „Phänomen“ auch im Alltag – auf der Arbeit, zuhause oder sogar in der Partnerschaft. Das Schlimmste ist, dass das eben als etwas „Normales“ gesehen und wahrgenommen wird. Viele Frauen merken es nicht, dass sie aufgrund ihres Geschlechtes nicht nur weniger Geld, sondern generell viel weniger Chancen als die Männer bekommen. Diese ungerechte Dynamik der Geschlechter bietet die Möglichkeit, durch Initiativen wie Keychange eine Reihe von erfolgreichen Veränderungen zu starten und immer mehr Leute einzubeziehen. Warum ist das nochmal so wichtig? Die von Keychange ausgehende Ermutigung zu dem Versprechen, Männern und Frauen* die gleichen Repräsentationsmöglichkeiten zu geben und sie barrierefrei ihre eigenen Talente zeigen zu lassen, ist einer der ersten, aber auch einer der wichtigsten Schritte für einen gerechten und nachhaltigen Wandel in der Musikindustrie.

Wer macht mit?

Der vom Reeperbahn Festival ins Leben gerufenen Absichtserklärung, der sogenannten „Keychange-Pledge”, haben sich schon über 180 internationale Festivals angeschlossen und erklären damit, bis 2022 ausgewogene Geschlechterverhältnisse in ihren Line-Ups und Konferenz-Programmen zu präsentieren. In den deutschsprachigen Ländern sind das bisher:
Alínæ Lumr (Germany), B-Sides Festival (Switzerland), Berlin Jazz Experiment (Germany), ByteFM (Germany), DICE Festival (Germany), Enjoy Jazz (Germany), Ferryhouse (Germany), Jazzfest Berlin (Germany), Jenseits von Nelken und Pralinen (Germany), Lalonova Festival (Germany), Lauter Festival (Switzerland), Malavida Music (Germany), MOST WANTED: MUSIC (Germany), Nürnberg Pop (Germany), Operation Ton (Germany), Pop-Kultur (Germany), punkd Festival (Germany), Radar Festival for New Music (Switzerland), Reeperbahn Festival (Germany), RFV Basel (Switzerland), SLT MUMA (Switzerland), Snowhite Records & Artist Management (Germany), Tapefabrik Festival (Germany), VUT Indie Days (Germany).

(Grafik: Keychange Studie)

Infos

(jd/m/uo/jg/ms)